Kapitel 2: Was sich neckt
Now I got my guard up
Can't let go
Don't mean to break the skin
I'm just sensitive
~ Mothica (Sensitive)
Um neun Uhr früh betrat Tiana die kleine Privatküche, die sich im hintersten Teil des Anwesens befand. Der Tisch war bereits gedeckt. In der Mitte stand eine große Schale mit kürzlich gedruckten Früchten – Sortenvielfalt inspiriert von den entferntesten Winkeln des Universums. Direkt daneben befand sich eine kleine Karaffe mit goldenem Zuckerrüben-Sirup. Drumherum, in zierliche Gläser abgefüllt, war eine reiche Auswahl an Marmeladen aufgereiht. Einige davon vom Markt, ein paar von Iohaan selbst zubereitet. Auf der Herdmatte, die der Afrikaner auf dem recht überschaubaren Küchentresen ausgerollt hatte, köchelte in einem kupfern-glänzenden Espressokännchen frisch gemahlener Kaffee. Daneben heizte eine gut geölte Pfanne vor. Iohaan war gerade dabei, flüssigen Teig glattzurühren.
„Perfektes Timing“, begrüßte er seine Chefin: „Der Kaffee ist soeben fertig geworden.“
Tiana nickte und schenkte sich und ihrem Chefsekretär etwas von dem Wachmacher ein.
„Wie kommt es, dass sogar Xana sich an den Ruhetagen freinimmt, aber Du bist einfach immer hier? Man könnte meinen, Du hättest keine eigene Bleibe“, lächelte sie und fügte ironisch hinzu: „Ich sollte Dir die Zugangsrechte zum Anwesen entziehen. Ich kann doch keinen Chefsekretär gebrauchen, der sich vor lauter Hausarbeit nicht mehr auf seinen eigentlichen Job konzentrieren kann.“
Iohaan zuckte die Schultern und goss eine volle Schöpfkelle Teig in die heiße Pfanne. Ein munteres Knistern und Zischen ertönte.
Wie so oft wunderte sich Tiana, mit welcher Leichtigkeit es Iohaan gelang, ein solch fabelhaftes Frühstück herbeizuzaubern.
Die Hocherle nahm Platz, lehnte sich zurück und hielt ihre Nase über dem Tassenrand. Die schokoladig-fruchtigen Röstaromen des Kaffees umschmeichelten ihre Geruchsknospen.
Sie kostete manierlich von dem bitteren Heißgetränk.
„Hm. Schmeckt heute anders“, bemerkte sie.
„Wildkaffee aus Äthiopien, importiert von der Erde – wurde erst gestern geliefert“, klärte Iohaan sie auf.
Sie gönnte sich einen weiteren Schluck der exotischen Kostbarkeit, stellte ihren Kaffee wieder ab und räkelte sich: „Jetzt spute Dich doch Mal mit den Pfannkuchen! Es duftet so gut, dass man den Hunger kaum noch aushalten kann. Wenn Du kein so guter Koch wärst, hätte ich mir längst was gedruckt.“
„Eile mit Weile“, entgegnete Iohaan unbeeindruckt.
Der Pfannkuchenstapel rechts neben der Herdmatte war bereits ein wenig angewachsen.
„Mhhah ... Also, ich an Deiner Stelle würde mich niemals mit so etwas herumplagen, wie manueller Essenszubereitung“, seufzte seine Chefin: „Ausgewogen ist der Fertigfraß aus der Lebensmittelkartusche ja allemal.“
Ihr Sekretär schüttelte milde lächelnd den Kopf, während er einen weiteren, gut gebräunten Pfannkuchen mit einem präzisen Luftschwung wendete.
„Schnell gedruckt, schlecht gespeist. Außerdem entspannt mich Kochen, das weißt Du ja. Den Fertiggerichten aus dem Molekular-Drucker fehlt einfach ... das gewisse Etwas.“
„Aber jetzt mal ehrlich, Iohaan. Objektiv betrachtet ist handgemachtes Essen absoluter Kokolores. Die meisten Komponenten, die man zum Kochen benötigt, werden sowieso gedruckt.“
Ein weiterer, perfekt ausgebackenen Pfannkuchen glitt auf den Stapel.
„Die gedruckten Grundzutaten sind ihren biologischen Vorlagen strukturell, geruchlich und geschmacklich sehr gut nachempfunden“, protestierte ihr Chefsekretär: „Außerdem geht es beim Kochen nicht bloß darum, wahllos Zeug in einem Topf zu erwärmen, um sich am Ende den Magen vollzuschlagen. Der Herstellungsprozess ist das, was wirklich zählt.“
„Das mag für den Koch gelten, aber wohl kaum für seinen Gast. Just angenommen, das selbst gekochte Essen wird zu einem absoluten Desaster. Ist eine mittelmäßige Fertigspeise da nicht um Längen besser, als eine verkorkste Kreativmahlzeit?“, gluckste Tiana vergnügt auf.
Der Erdling seufzte amüsiert und drapierte einen heißen Pfannkuchen auf ihrem Teller.
„Wie verkorkst das Essen schmeckt, kannst Du ja gern selbst beurteilen“, er warf einen Blick Richtung Kücheneingang: „Wo bleiben denn Olga und Dragan? …“
„Tsssh … Wenn sie zu spät kommen, bleibt mehr für uns übrig“, stellte Tiana fest und griff nach der Erdfruchtaufstrich: „Aber diese Hoffnung müssen wir wohl fahren lassen“, ergänzte sie achselzuckend, als sich im Flur etwas regte.
„Fannkuchen!“, frohlockte Dragans piepsige Stimme, als er in die Küche stürmte und auf einen Stuhl neben Iohaan kletterte. Er hielt sein Stofftier mit dem Rüssel voraus über das bunte Frühstücksbuffet. Die kurzen Beinchen des Plüschies baumelten gefährlich nahe über einer Schale voll klebriger Marmelade.
„Gibt es Rübensirup? Hubert will auch Fannkuchen mit Rübensirup!“, deklarierte er.
„Ist Hubert denn so hungrig?“, versetzte Iohaan mit gespieltem Staunen.
„Ja, sehr hungrig!“
„Dann mach Mal ein bisschen Platz, damit Dein kleiner Freund mit am Tisch sitzen kann, ohne sein strubbeliges Fell schmutzig zu machen. Komm, ich helfe Dir.“
Im Handumdrehen hatten die beiden etwas Platz geschaffen, sodass Dragan Hubert neben seinem Teller drapieren konnte.
Gerade als Iohaan dabei war, dem Jungen ein kleines Schälchen für den flauschigen Frühstücksgast zu reichen, betrat Olga die Küche.
Die 14-jährige war keine sonderliche Frohnatur. Vielleicht lag es an den Genen, die ihr Vater so großzügig an sie vererbt hatte, oder vielleicht war Dorians mieser Charakter schlichtweg auf seine Tochter abgefärbt.
Vielleicht eine Kombination aus beidem.
Ganz gleich, ob sozial oder biologisch bedingt: die Hocherle hatte ihre liebe Not, Zugang zu ihrer Stieftochter zu finden. Nach – wie Tiana es empfand – unzähligen gescheiterten Versuchen, sich mit Olga auszusöhnen, hatte sie ihre Stieftochter innerlich aufgegeben. Den Frieden im Anwesen versuchte sie nun zu wahren, indem sie der Teenagerin mit verschärften Strenge und vorgetäuschter, passiv-aggressiver Heiterkeit begegnete.
Das klappte logischerweise nur bedingt. Um genau zu sein gar nicht.
„Sieht Mal an, wer auch endlich da ist!“, meinte die Hocherle in einem maliziös-scherzhaften Ton: „Setz Dich, Sonnenschein, wir haben noch nicht angefangen.“
Die aufgesetzte Lässigkeit ihrer Stiefmutter verstimmte Olga augenblicklich. Der unterschwellige Tenor, den Tiana ihr gegenüber immer wieder einschlug, empfand die 14-jährigen als abschätzig, gar feindselig.
„Ich esse lieber auf meinem Zimmer“, erwiderte die Jugendliche, ohne ihre Stiefmutter auch nur eines Blickes zu würdigen und hatte schon einen leeren Teller in der Hand.
„Du isst, wie alle anderen auch, am Küchentisch“, verfügte Tiana.
„Wieso? Papa ist doch auch nicht hier.“
„Dein Vater muss viel arbeiten, das weißt Du genau. Bist Du auch so schwer beschäftigt?“
„Vielleicht bin ich's ja, aber das geht Dich sowieso nichts an.“
Mit diesen Worten beförderte die Teenagerin eine beachtliche Menge Pfannkuchen auf ihre Platte.
„Du. Setzt Dich. Hin.“, bestimmte Tiana unwirsch: „Und lass was für andere übrig. Du bist hier nicht allein.“
Das Mädchen erstarrte für einen kurzen Moment und wägte ab, ob es sich der Situation stellen oder lieber ihrem Fluchtinstinkt nachgeben sollte. Es entschied, der Stiefmutter zu trotzen.
„Weißt Du was? Dann ess' ich halt gar nichts“, entgegnete Olga patzig, ließ ihren Teller auf die restlichen Pfannkuchen fallen und sah Tiana beharrsam an: „Fett werden kannst Du auch alleine.“
„Wie war das?“
Nun war Tianas Geduldsfaden gerissen. Sie erhob sich hektisch von ihrem Sitz und fixierte ihre Stieftochter mit einem durchdringenden Blick.
Olgas Stimme wurde lauter: „Als würde es Dich kümmern, dass ich mitesse! Für mich ist doch eh nie Platz – ich störe doch nur!“
„Wundert Dich das, so aggressiv wie Du immer bist? Setzt Dich. Sofort.“
Olgas Halbbruder war indes verunsichert. Der Sitz zwischen ihm und seiner Mutter war leer und als er die Tischplatte überflog, erschien es ihm, als sei genügend Platz vorhanden. Doch dann ging ihm ein Licht auf.
„Olga?“, machte er sich bemerkbar: „Ich kann Hubert woanders hinsetzen. Dann stört er Dich nicht. Du hast dann genug Platz.“
Seine Schwester blickte ihn perplex an.
„Boah, Dragan, es geht nicht immer nur um Dein blödes Stofftier.“
Für einen kurzen Augenblick rödelte es in Dragans Gehirn, dann hatte er das Gesagte endlich verarbeitet.
„Hubert ... i-ist nicht blöd!“, quäkte er.
„Ach, heul doch!“, erwiderte Olga knirrig.
Mit dem Ergebnis hätte sie eigentlich rechnen müssen. Ihr kleiner Bruder folgte präzise ihrer Aufforderung und brach in einem herzzerreißenden Geheule aus.
„War das jetzt wirklich nötig?“, fuhr Tiana ihre Stieftochter an.
„Was denn? Dragan heult doch wegen jedem Kleinscheiß!“, widersetzte sich die Teenagerin: „Kann ICH doch nix dafür!“
„I-ich h-heul n-nicht we-h...gen jeh...dem kh... khl...sch-scheiß!“, behauptete Dragan, während ihm dicke Tränen über die Backen strömten.
„Doch, tust Du!“, beharrte Olga.
Darauf wusste Dragan mit einem nur noch kläglicheren Gewimmer zu antworten.
„Würdest Du jetzt BITTE damit aufhören?“, Tiana funkelte ihre Stieftochter böse an: „Oder willst Du Dich unbedingt mit Deinem kleinen Bruder auf eine Stufe stellen? Du bist keine fünf mehr!“
„Und Du bist nicht meine Mutter, also ist er auch nicht mein richtiger Bruder!“, protestierte Olga: „So eine blöde, verweichlichte Heulsuse will ich sowieso nicht als Bruder haben!“
Als Dragan Olgas Worte vernahm, verstummte er abrupt und blickte seine Halbschwester entsetzt an. Obwohl alles im Innern des Jungen auf hemmungsloses Heulen eingestellt war, fürchtete er sich, auch nur eine weitere Träne zu verlieren. Wenn er müsste, würde er nie wieder weinen – nur damit seine Schwester ihn wieder lieb hatte.
„Endlich bist Du still“, brummte Olga: „Warum nicht gleich so?“
Dragans Gesicht war vor lauter Anstrengung ganz verzerrt. Er kaute an seiner Unterlippe und schluckte die sich anbahnenden Tränen mühsam herunter. Dann senkte er seinen Blick, führte seine Handflächen über seiner Stirn zusammen und rieb sie demütig gegeneinander4.
„Jetzt reicht es“, knurrte Tiana ihre Stieftochter an: „Dein Benehmen Deinem Bruder gegenüber ist inakzeptabel!“
„Warum? Er heult doch nicht mehr! Das wolltest Du doch!“
„Tch! Ganz wie der Vater! Immer schön die Tatsachen verdrehen!“
„Ach? Also, wenn Dragan heult ist das scheiße und wenn er nicht heult auch?! Und ich bin immer schuld an allem!“
Mit diesen Worten stürmte das Mädchen aus der Küche.
Die Hocherle wollte ihrer Stieftochter folgen, da sprach Iohaan ein Machtwort.
„Tiana, lass' sie.“
Obwohl ihr Chefsekretär ruhig sprach, wurde sie das Gefühl nicht los, dass er sie tadelte.
„Iohaan? Ist Olga sauer auch mich?“, fragte Dragan verhuscht.
Seine Stimme zitterte und die Tränen flossen wieder.
„Nein. Sie ist nicht sauer auf Dich“, versicherte ihm Iohaan und warf seiner Chefin einen strengen Blick zu: „Tiana, setzt Dich. Bitte.“
Innerlich kochte sie immer noch, aber sie hörte auf ihren Sekretär.
Unterdessen schmierte Iohaan ganz in Ruhe ein paar Pfannkuchen.
„Hier. Magst Du sie mit Deiner Schwester teilen? Sie hat bestimmt Hunger. Sicherlich findest Du sie auf ihrem Zimmer. Klopfe vorsichtig an.“
Dragan nickte, wischte sich schniefend die Tränen aus dem Gesicht, hüpfte vom Stuhl und nahm den gut bestückten Teller entgegen.
„Was zu trinken könnt ihr euch in der Gästeküche holen. Xana hat die Getränkekartusche erst vor ein paar Tagen ausgetauscht.“
Nur wenige Augenblicke später hörte man im Flur ein zaghaftes Klopfen und eine Tür glitt zur Seite. Getuschel und Gemurmel, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
„Findest Du nicht, dass es Dir nicht zusteht, Dich in Angelegenheiten zwischen mir und meiner Stieftochter einzumischen?“, zischte Tiana ihren Sekretär an, als sich wieder Stille über den Gang gelegt hatte: „Ihr Verhalten war mehr als nur unangemessen und nun wird sie dafür auch noch belohnt.“
„Ihr habt euch beide nicht mit Ruhm bekleckert. Allerdings ist Olga 14 und verhält sich ihrem Alter entsprechend, Du dagegen bist 41 und tust es nicht.“
„Dass sie 14 ist, kann nicht die Ausrede für alles sein“, erwiderte Tiana geladen.
„Ist das so? Und was ist Deine Ausrede dafür, dass Du sie so abweisend und von oben herab – wortwörtlich stiefmütterlich – behandelst? Selbst Deine Scherze können da nicht länger drüber hinwegtäuschen. Sogar mir als Außenstehendem stößt das mittlerweile extrem bitter auf. Was meinst Du, wie es einer 14-jährigen dabei ergeht?“
„Ich bitte Dich, Iohaan, Du überdramatisierst.“
„Ach, wirklich? Wann hast Du das letzte Mal unironischerweise auch nur ein gutes Wort über Olga verloren?“
Die Hocherle überlegte, schüttelte dann aber störrisch den Kopf.
„Ich fasse sie nicht mit Samthandschuhen an, solange sie sich nicht zu benehmen weiß.“
„Mit Samthandschuhen?“, staunte Iohaan: „Es ist doch ganz gleich, wie sehr Olga sich anstrengt. Selbst wenn sie sich ein Bein ausreißen würde, nur um Dir zu gefallen, würdest Du das mit keinem Laut würdigen.“
„Das stimmt nicht.“
„Hast Du in letzter Zeit wenigstens Mal versucht, auf sie zuzugehen? Mit ihr über eure Diskrepanzen und Probleme zu reden? Und damit meine ich nicht, dass Du dabei die ganze Schuld bei ihr abgeladen, sie mit ihrem Vater verglichen und euer Streitgespräch damit beendet hast.“
„Das einzige Problem, das sie zu haben scheint, bin ja offenbar ich“, schnappte Tiana ein: „Und ich lasse mir doch von einer Teenagerin nicht vorwerfen, ich sei eine miserable Mutter!“
Iohaan warf resignierend die Hände in die Luft: „Tiana, das ist einfach nur noch traurig! Olgas Bemühungen, sich in diese Patchwork-Familie einzugliedern, werden von Dir vollkommen ignoriert. In ihrer Anwesenheit redest Du ständig schlecht von Dorian. Dann diese ständigen Vergleiche mit ihrem Vater, bei denen Du ausschließlich Dorians negative Eigenschaften betonst und auf Olga projizierst …“
„Du weißt, was für ein Arschloch mein Gatte ist. Und der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm.“
„Mir fehlen die Worte. Merkst Du denn überhaupt nicht, wie kindisch das klingt?“
Die Hocherle verdrehte uneinsichtig die Augen.
„Dass viele Mütter und Väter ihre Lieblingskinder haben, das ist ja schon längst bekannt. Aber es ist unmöglich, wie sehr Du das raushängen lässt“, redete Iohaan weiter auf sie ein: „Ich verstehe, dass Dragan Dein leiblicher Sohn ist. Aber bei aller Liebe, Olga ist auch Deine Tochter.“
„Sie ist nicht ... Iohaan, ich bitte Dich. Was soll ich denn machen, wenn sie ständig so bockt? Ich bin nicht ihre Freundin, sondern ihre Erziehungsberechtigte. Sie muss lernen, wer hier das Sagen hat. Und es kann nun wirklich nicht so schwer sein, sich an ein paar Regeln zu halten.“
Iohaan rümpfte missbilligend seine Nase.
„Just wolltest Du doch sagen, dass Olga nicht Deine Tochter ist. Obliegt es Dir dann überhaupt, etwas von ihr zu erwarten; erst recht zu verlangen?“
„Du verdrehst mir die Worte in Mund.“
Iohaan seufzte.
„Wir haben dieses Gespräch schon zu oft geführt. Du kannst Olgas leibliche Mutter nicht ersetzen, aber es entbindet Dich nicht von der Verpflichtung, ihr eine gute Vizemutter zu sein.“
Tiana lachte spöttisch auf: „Ist das nicht komisch? Nun weiß ich wieder, warum ich Dir die Teilvormundschaft für meinen Sohn übertragen habe. Dein übermäßiges Pflichtgefühl ist kaum noch auszuhalten.“
Iohaan zog seine Augenbrauen zusammen: „Als Du mit Dorian den Partnervertrag eingegangen bist, hast Du Dich dazu bereit erklärt, alles mit ihm zu teilen. Wenn die Kinder aus anderen Bündnissen dazu gezwungen sind, sich der neuen Lebenssituation anzupassen, ist es wohl das Mindeste, dass sich der neue Lebenspartner um sie bemüht und sie bedingungslos annimmt – wie eigenes Fleisch und Blut.“
„Eigenes Fleisch und Blut?“, Tiana lachte boshaft auf: „Die Mühe kann ich mir doch sparen! Olga vergöttert Dorian. Aus ihr kann bloß ein überspitztes Ebenbild ihres Vaters werden. Eine weitere Egomanin, die dieser Planet nicht braucht. Ich habe es doch versucht, Iohaan! Wirklich versucht! Ich kann nicht gewinnen. Dann kann ich genauso gut aufgeben.“
„Du bist nicht fair zu ihr.“
„Das Leben ist nicht fair, Iohaan. Wenn ich das als Kind lernen konnte, kann sie das auch.“
„Bloß ... aus Dir ist ja was Vernünftiges geworden“, überlege ihr Chefsekretär: „Dass aus Olga etwas Gutes werden kann, sprichst Du ihr ab.“
Nun waren Tiana die Argumente ausgegangen.
„Du bist mein Sekretär, nicht mein privater Gesinnungsethiker“, wies sie Iohaan verstimmt zurecht.
„Wenn das so ist ...“, entgegnete dieser schulterzuckend, erhob sich und begann ohne Eile die Essensreste in den Lebensmittelverwerter zu befördern und die Geschirrspüle einzuräumen.
„Tut mir Leid, so habe ich das nicht gemeint“, entschuldigte sich seine Chefin. „Ich weiß“, bestätigte er.
Gerade als die Geschirrspüle zu rattern begann und Iohaan das letzte Glas Marmelade im Kühlschrank untergebracht hatte, stand Dragan plötzlich wieder in der Küche.
„Ich habe Hubert vergessen“, erklärte der Fünfjährige: „Hubert möchte die Weltenhüpfer mitschauen! Mama, darf ich den Panorama-Bildschirm benutzen?“
„Natürlich, heute finden ja keine Meetings im Sitzungsbereich statt“, bestätigte seine Mutter.
Ihr Sohn hüpfte munter davon, während er seinem besten Freund aus Flausch fragend zumurmelte, ob er sich auch schon so auf die neue Folge der „Weltenhüpfer“ freue.
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Olga war gerade in die Gästeküche rübergeschlendert, um sich was zu trinken zu holen, da sah sie ihren kleinen Bruder, wie er vor dem riesigen Bildschirm herumtanzte, Hubert hin und her schwang und aus voller Brust den Intro-Song der „Weltenhüpfer“ mitgröllte.
Die 14-jährige zapfte sich ein kaltes Sprudelgetränk mit „Interstellar-Fruchtmix- Geschmack“ und gesellte sich verwundert zu ihrem Bruder.
„Was'n los? Sind Deine Kontaktlinsen kaputt oder sowas?“, fragte sie ihn spöttisch: „Oder findest Du Allroundview zu Mainstream?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Nein. Hubert möchte mitgucken, aber er hat keine Kontaktlinsen. Über den Bildschirm können wir die Serie zusammen schauen.“
„Boah, Dragan, Du bist manchmal schon ziemlich stumpf. Huber kann doch eh nix sehen.“
„Aber natürlich kann Hubert was sehen!“, empörte sich Dragan und hielt Olga sein Stofftier ins Gesicht: „Guck doch, hier! Er hat Augen, also kann er auch sehen!“
„Und woher weißt Du, dass er keine Kontaktlinsen trägt?“
„Das hat er mir gesagt“, behauptete der Junge: „Hubert mag keine Kontaktlinsen. Die brennen manchmal so in den Augen. Also hat er einfach keine.“
Olga beäugte ihren Stiefbruder skeptisch. Typisch. Nie rückte er mit der Sprache raus, wenn ihm was wehtat. Offenbar bereiteten ihm die temporären Di2B-Linsen5 gerade Probleme. Na ja, nicht schlimm. Der nächste Augentechniker-Besuch stand sowieso in Kürze an, und dass die vorübergehenden Linsen bei Kleinkindern gerne Mal Reizungen auslösten, was nichts Neues. Mit dem Einsatz der Dibbies für Ausgewachsene würde sich dieses Problem beheben. Ihre eigenen permanenten Kontaktlinsen hatte die Jugendlichen erst vor einem Zyklus eingesetzt bekommen. Auch bei ihr standen momentan regelmäßige Kontrollen an, bis ihre Augen die Fremdkörper vollständig angenommen hatten.
„Magst Du auch mitgucken?“, fragte ihr Bruder.
Sie überlegte, zuckte die Schultern und gesellte sich dazu.
Dass die Geschwister sich unterhalten hatte, war dem Entertainment-System nicht entgangen. Erst als die beiden es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatten, wurde das Abspielen der Folge fortgesetzt.
Die Nuklera namens Izzi – ein manimorphes6, kleinwüchsiges Wesen von dem Planeten Kusashnan7 und die Leiterin des Teams – ergriff das Wort.
4 Handflächen gegen einander reiben
In Tavandrien ist es Brauch, die Handflächen gegeneinander zu reiben, wenn man bei jemandem um Entschuldigung bittet. Dabei hält man die Hände, abhängig von der Intensität der Bitte um Verzeihung, auf der Höhe des Gesichtes (es tut einem nicht sonderlich leid) oder oberhalb des Kopfes (es tut einem sehr Leid). Auch die Geschwindigkeit / Beherztheit, mit der die Hände gegen einander gerieben werden, unterstreichen den Grad der Demut. Ein langsames und halbherziges gegeneinander reiben der Hände wird niemanden davon überzeugen, dass eine Entschuldigung ernst gemeint ist. Will man eine ironische Entschuldigung aussprechen, kann man die Hände in der Höhe des Gesichtes schnell gegen einander reiben und dabei das Gesicht verziehen oder die Augen verdrehen.
5 Di2B-Linsen, aufgeschlüsselt „Digital-Image to Brain-Linsen“
auch Ditubies oder Tubies genannt – sind Kontaktlinsen, die es ermöglichen, digitalen Bild- und Videoinput direkt ins Gehirn zu leiten und im Auge zu projizieren.
6 manimorph
bedeutet „von Gestalt eines Mani, maniähnlich“
7 Kusashnan
hergeleitet aus Ashnan, mesopotamische Göttin des Getreides, und Kusu, ihr ursprünglicher Beiname
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